Des einen Freud, des Vogels Leid

Text: Dr. Nina Krüger, Foto: Dr. Gerold Dobler

Liebe Leserinnen und Leser,

ich halte normalerweise nicht viel vom erhobenen Zeigefinger, denn vermutlich legt ein jeder und eine jede von uns gelegentlich Verhaltensweise an den Tag, die andere zum Kopfschütteln bringen. Nachsicht, positive Bestärkung und nicht zuletzt der Appell an den gesunden Menschenverstand, der doch den meisten irgendwo innewohnt, haben oft einen nachhaltigeren Effekt als anklagende – und nicht selten anmaßende – Worte.
Wer sich in der Natur bewegt, wer sich für die Geschöpfe und Gewächse in seiner Umwelt interessiert, dem sollte eine gewisse Umsicht nicht fremd sein. Umso unverständlicher ist es, dass ungewöhnliche Ereignisse nicht nur Unmengen an Schaulustigen anziehen, sondern auch einige zu völlig unverständlichem Verhalten animieren.

Tauchen seltene Arten außerhalb ihrer natürlichen Lebensräume oder Zugrouten auf, stellen sich schnell Scharen an Vogelbegeisterten ein. Manche nehmen schier unglaubliche Reisewege dafür in Kauf. Natürlich fasziniert es, wenn etwa Waldrappe plötzlich fast vor der eigenen Haustür in Norddeutschland erscheinen – so wie mir auf dem letzten Herbstzug geschehen. Oder wenn sich plötzlich ein Gelbschnabeltaucher wochenlang weitab aller Zugrouten auf einem Binnensee in Oberösterreich aufhält (lesen Sie mehr dazu ab Seite 30). In diesem Frühjahr kam es sogar zu noch weiteren kuriosen Beobachtungen, Gänsegeier in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein (mehr dazu ab Seite 82). Lassen sich die Geiersichtungen noch mit der zunehmenden Bestandserholung und dem Umherstreifen vor allem von Jungvögeln erklären, so sind die ersten beiden Ereignisbeispiele nicht so positiv begründet.

Seltene Arten, die unverhofft an für sie ungewöhnlichen Orten auftauchen, haben meist ein Problem. Wenn es nicht wie bei unserem Gelbschnabeltaucher schon bei der Landung besteht, entwickelt es sich spätestens danach. In teils unpassenden Lebensräumen finden sie kaum Nahrung, werden von übereifrigen Twitchern beunruhigt und manchmal sogar aufgescheucht und verenden am Ende nicht selten durch Entkräftung oder an Verletzungen fernab ihrer Heimat. Des einen Freud ist somit häufig des Vogels Leid. Machen Sie sich dies bewusst, wenn Sie auf einer der einschlägigen Plattformen für Vogelbeobachtungen von Einflügen seltener Arten lesen und den Autoschlüssel schneller in der Hand haben, als der Verstand mithalten kann.

Ihre

Dr. Nina Krüger

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