Text & Foto: Sebastian Conradt
Im letzten Herbst hat BirdLife International ein Konzept der von Seevögeln hauptsächlich genutzten, interkontinentalen Zugrouten über den Ozeanen vorgestellt. Zahllose High-End-Forschungsdaten sind in diese Arbeit eingeflossen. Die „Marine Flyways“ ergänzen die neun terrestrischen Zugrouten und sollen den länderübergreifenden Schutz bedrohter Seevogelarten verbessern
Endlich wieder Norderoog! Endlich wieder auf dieser kleinen Hallig, die allein den Seevögeln vorbehalten ist. Ein paar Jahre bin ich nicht hier gewesen, und die Faszination ist dieselbe wie beim ersten Besuch. Die aufwendige Anreise zuerst mit dem Auto, dann per Schiff und schließlich zu Fuß über den bei Ebbe trocken gefallenen Meeresboden hat mich entschleunigt. Vom Balkon der einfachen Pfahlhütte kann ich stundenlang dem Treiben der Vögel zusehen, die Ohren betäubt vom Kreischen der Seeschwalben, die Nase erfüllt vom Geruch von Tang, Fisch und Guano.
Nach kurzer Zeit lässt sich eine Küstenseeschwalbe kaum mehr als zwei Armlängen von mir entfernt auf dem Geländer des Hüttenumlaufs nieder. Ihr Partner sitzt unten zwischen den spärlichen Halmen auf dem Gelege, sie legt eine kleine Pause im Brutgeschäft ein und scheint den Blick über die kleine Hallig ebenso zu genießen wie ich. Zu gern wüsste ich, wo sie war, bevor sie vor ein paar Wochen hierher nach Norderoog kam, wo sie den Winter verbracht hat. Ob sie sich daran erinnern kann? Ob sie in ihrem kleinen Kopf Bilder abgespeichert hat von den Landschaften, den Meeren und Kontinenten, die sie seit der letzten Brutsaison überflogen hat? Küstenseeschwalben, kaum schwerer als eine Tafel Schokolade, gelten als die Tiere, welche die weitesten jährlichen Wanderungen zurücklegen und dabei tief in die südliche Hemisphäre vordringen. Doch wohin genau führt sie der Weg in der Jahreszeit, in der es bei uns kalt, nass und vor allem dunkel ist?
Bahnbrechende Entdeckung
Vermutlich ahnte der Däne Carsten Egevang im Sommer 2007 noch nicht, welch einzigartigen Einblick er in das Leben von Küstenseeschwalben gewinnen würde, als er auf Grönland und Island insgesamt 70 Individuen mit winzigen Fahrtenschreibern, sogenannten Geolokatoren ausstattete. Die kleinen Hightech-Geräte können jeden Aufenthaltsort eines einzelnen Vogels anhand der Tageslichtlänge und dem Zeitpunkt von Sonnenauf- und Sonnenuntergang ermitteln und die gesammelten Positionsdaten über ein oder mehrere Jahre speichern. Im darauffolgenden Frühjahr konnte Egevang elf noch funktionierende Geolokatoren durch Wiederfang der Tiere bergen und durch Auswertung der mitgebrachten Daten den Nachweis für die damals weiteste Flugstrecke eines Zugvogels außerhalb der Brutzeit erbringen. Auf ihrem winterlichen Rundflug legten die Seeschwalben bis zu 81.600 Kilometer zurück, doppelt so viele, wie bis dahin angenommen.
Zunächst zogen sie gemeinsam zu einem vorher unbekannten „Stop over“-Gebiet im zentralen Nordatlantik, ein Nahrungsquell gigantischen Ausmaßes, auch für andere Meeresbewohner, in dem sie drei bis vier Wochen blieben. Anschließend orientierten sie sich nach Westafrika, von wo aus sie zum Teil getrennte Wege gingen: Sieben der Seeschwalben mit Geolokator folgten der afrikanischen Küste in den Süden und wurden hinter dem Ende des Kontinents von den Stürmen der „Roaring Forties“ für eine Stippvisite nach Osten in den Indischen Ozean verdriftet, bis sie schließlich ihr Winterquartier im westlich gelegenen Weddellmeer fanden.