Kampf oder Konsens?

Text & Fotos: Philipp Meister

Vögel halten untereinander einen definierten Abstand ein, der vor unnötigen Streitigkeiten schützt. Wird diese individuelle Distanz unterschritten, handelt es sich entweder um einen Kampf oder um ein Ereignis, für das zuvor eine „Übereinkunft“ unter den Individuen hergestellt werden muss.

Beobachtet man im Spätsommer einen Trupp junger Knutts bei der Nahrungssuche, stellt man fest, dass die Vögel zwar in einem engen Verbund trippeln, die Individuen den unmittelbaren körperlichen Kontakt untereinander jedoch vermeiden. Auch Stieglitze, die im Herbst als kleiner Trupp an einer Sonnenblume fressen, oder Pfeifenten, die gemeinsam auf einer Feuchtwiese äsen, halten einen bestimmten Mindestabstand untereinander ein. In der Verhaltensbiologie bezeichnet man diesen Mindestabstand zu Artgenossen als Individualdistanz, die von Distanztieren wie Vögeln, Schwarmfischen und vielen Huftierarten eingehalten wird.


Konfliktvermeidung
Der individuelle Abstand zwischen einzelnen Vögeln beträgt bei vielen Arten gewöhnlich ungefähr eine Körperlänge. Der Vorteil einer solchen Übereinkunft ­darüber, wie nah sich Individuen einander annähern dürfen, liegt vor allem in der Vermeidung von Streitigkeiten. Denn ein Unterschreiten der Individualdistanz löst Ausweichen, Drohen oder einen Angriff aus. Ständige „Reibereien“ würden die Vögel von der Nahrungssuche abhalten und im schlimmsten Fall zu Verletzungen führen. Außerdem würde sich die Wachsamkeit gegenüber möglichen Fressfeinden verringern.
Gerade in großen Verbänden, die sich zum Ziehen, Rasten oder Überwintern zusammenschließen, sind solche Regeln wichtig. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass es sich bei vielen Vogelschwärmen um anonyme und offene Verbände handelt. Der Großteil der Mitglieder kennt sich untereinander nicht, die Individuen können den Verband jederzeit verlassen oder es können neue Vögel hinzukommen. So existiert beispielsweise in Möwen- oder Starenschwärmen kein individuelles Beziehungsgeflecht, sondern eher eine „Gitterstruktur“ mit definierten Mindestabständen zum nächsten Individuum.
Einige Vogelarten erlauben allerdings geringere Mindestabstände. Es sind in der Regel solche Arten, die sozial organisiert sind und sich in festen kleinen Trupps zusammenschließen, wie zum Beispiel die Schwanzmeise. Die Individualdistanz ist bei Schwanzmeisen kaum ausgeprägt und kann dazu führen, dass die Individuen „Schulter an Schulter“ an einem Meisenknödel fressen. Feldsperlinge, die ebenfalls ganzjährig gesellig leben, halten für gewöhnlich mindestens zehn Zentimeter Abstand zueinander ein. In Ruhephasen schmiegen sich die Vögel gelegentlich jedoch aufgeplustert aneinander.
Zwar ist die Individualdistanz artspezifisch, doch wird sie darüber hinaus von verschiedenen Umständen beeinflusst. Feste Brutpartner und Familienverbände innerhalb eines größeren Schwarms kommen sich untereinander näher als dies nicht miteinander verbundene Schwarmmitglieder zulassen würden. Solche Familien-Cluster lassen sich gut im Herbst in Gänse- und Kranichtrupps ­beobachten. Wiederum tolerieren bei manchen Arten wie dem Buchfink die Weibchen untereinander geringere Mindestabstände als die Männchen. So beträgt beträgt die Individualdistanz unter weiblichen Buchfinken sieben bis zwölf Zentimeter, unter männlichen Vertretern ist sie mit 18 bis 25 Zentimetern ungefähr doppelt so groß.

Mehr lesen im aktuellen Heft 02-2024..